Bundesamt für Strassen ASTRA
A2 Zweite Röhre Gotthard

5 Fragen an Alessio Menegatti, Projektleiter Geologie

04.08.2022

Das Gotthardmassiv setzt sich aus verschiedenen Boden- und Gesteinsschichten zusammen. Eine vorgängige geologische Beurteilung des Gebirges ist zentral für jedes Bauprojekt. Bauherren-Geologe Alessio Menegatti erklärt im Interview, wie die Erkenntnisse seines Teams den Bau der zweiten Gotthardröhre beeinflussen.

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Alessio Menegatti, Projektleiter Geologie

Herr Menegatti, welchen geologischen Herausforderungen begegnen wir beim Bau der zweiten Gotthard-Strassenröhre?

Dank der ersten Gotthard-Strassenröhre kennt man die Geologie entlang der Tunnelachse bereits recht gut. Hier bilden sicherlich die beiden «bekannten» grossen Störzonen im Norden und Süden die grösste Herausforderung. Aus der Dokumentation zum Bau der ersten Strassenröhre sowie des Service- und Infrastrukturstollens (SISto) sind rund 400 Störungen und Störzonen in der Mächtigkeit von wenigen Dezimetern bis mehreren Zehnermetern bekannt. Viele davon sind bautechnisch aber nicht oder wenig relevant.

Die bisher grösste «Überraschung» betrifft die Komplexität der geologischen Gegebenheiten ausserhalb des Tunnels bei Göschenen und Airolo. Die geologische Situation über Tage war bis vor kurzem noch wenig untersucht. Rund um die beiden Tunnelportale bestehen heterogene Verhältnisse, geprägt von Natur und Mensch: durch frühere Gletschererosion, Felsstürze, Blockschlag, Murgänge sowie abgelagertes Ausbruchmaterial des Gotthard-Eisenbahntunnels und der ersten Strassenröhre. In den vergangenen zwei Jahren hat das Geologen-Team somit nicht nur die Gebirgseigenschaften unter Tage beurteilt, sondern auch Prognosen für die Aussenbaustellen zum Bau der zweiten Gotthardröhre aufgestellt. Damit konnten die Baustellen und Bauwerksfundationen entsprechend gesichert beziehungsweise dimensioniert werden.


Wie sind Sie und Ihr Team dabei vorgegangen?

Wir haben zahlreiche historische Dokumente wie geologische Karten, Fotografien und frühere Baugrundberichte sowie die Ergebnisse aus den vorgängigen Projektphasen analysiert. Obwohl die damaligen Dokumente noch analog erfasst wurden, konnten wir bei der Planungsphase stark von der Befundaufnahme der ersten Röhre profitieren. Ausserdem haben wir den Baugrund ausserhalb des Tunnels auch mittels Kernbohrungen und Schürfgruben mit Baggern untersucht. Damit können Einschätzungen zur Lage der Felsoberfläche, zur Tragfähigkeit und Standfestigkeit von Lockergestein oder etwa auch zum Wasseranfall gemacht werden. Dazu sind verschiedene Spezialistinnen und Spezialisten gefragt: Ingenieurgeologen, Hydrogeologinnen, Geotechniker, Messtechnikerinnen, Naturgefahrenspezialisten, Altlastenspezialistinnen sowie Bauzeichner. Bei der Ausführungsphase werden weitere Sondierbohrungen gemacht werden müssen. Denn bei Sondierbohrungen handelt es sich nur um «Nadelstiche» im Baugrund – es kann also immer zu lokalen Abweichungen, sprich Überraschungen, kommen.


Sind Verzögerungen durch «geologische Überraschungen» somit vorprogrammiert?

Das Bauprogramm und die Vortriebszeit basieren auf den bisherigen Erkenntnissen zu Beschaffenheit und Eigenschaften des Gebirges. Die gewählten Baumethoden sind eine Bestvariante hinsichtlich der Sicherheit, der Wirtschaftlichkeit und den heutigen technischen Möglichkeiten. Wenn die Verhältnisse beim Bau aber anders sind als bisher prognostiziert, muss man flexibel darauf reagieren können. Dies kann Verzögerungen verursachen.


Welche Vortriebsmethoden kommen zum Einsatz?

Es werden grundsätzlich drei Vortriebsmethoden angewendet: im Lockergestein der maschinenunterstützte Vortrieb (MUL) sowie sogenannte Bauhilfsmassnahmen (z. B. Jet Grouting), im Festgestein der maschinenunterstützte Vortrieb (MUF), der Sprengvortrieb (SPV) sowie – das macht den Hauptanteil aus – der Vortrieb mit der Tunnelbohrmaschine (TBM). Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben sich bereits beim Bau des SISto die Zähne an den beiden grossen Störzonen im Norden und Süden ausgebissen: ein Jahr nahm der Vortrieb durch die je ca. 300 Meter langen Störzonen in Anspruch. Deswegen werden in Göschenen und Airolo zurzeit auch je ein Zugangsstollen bis hin zu den beiden Störzonen gebaut, damit die Störzonen vorgängig ausgebrochen und gesichert werden können. Denn der Vortrieb des Haupttunnels mit der TBM durch diese Zonen wäre technisch sehr schwierig und mit übermässigem Aufwand verbunden.


Sie werden das Projekt bis zur Inbetriebnahme der zweiten Röhre beratend begleiten. Was gefällt Ihnen besonders an Ihrer Arbeit?

Jeder Tunnel hat seine Geschichte. Das Baumaterial ist ein Naturgestein, ein Gebirge mit eigenen naturwissenschaftlichen Gesetzen. Das fasziniert mich seit Jahren. Und dann ist da die Zusammenarbeit in einem hervorragenden Geologen-Team und der spannende Austausch mit den Spezialistinnen und Spezialisten anderer Fachrichtungen. Zuletzt ein persönlicher Aspekt: als gebürtiger Tessiner mit Büro in Altdorf bin ich mit der Gotthardregion sehr verbunden. In dem Sinne könnte ich mir kein schöneres Projekt vorstellen.

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Vier Gesteinsschichten und zwei längere Störzonen

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Die zweite Röhre am Gotthard durchquert auf ihren 16,9 Kilometern Länge verschiedene Gesteinsschichten, darunter Granit, Gneis und Permokarbon. Die geologische Situation birgt einige Herausforderungen, bei denen selbst die Tunnelbohrmaschine nicht vorwärtskommt. Die zweite Röhre wird zum grössten Teil mit zwei Tunnelbohrmaschinen herausgebrochen. Diese werden an den beiden Portalen in Göschenen und Airolo zusammengebaut und sich von dort in den Berg arbeiten. Auf dem Weg zur Tunnelmitte haben die Expertinnen und Experten zwei längere geologische Störzonen ermittelt. Die nördliche Störzone befindet sich am Übergang zwischen zwei Gesteinsschichten und liegt ca. 4,1 Kilometer vom Nordportal entfernt. Die Störzone Mesozoikum im Norden ist rund 270 Meter lang. Auf der Südseite ist die Störzone Guspis rund 300 Meter lang, sie liegt dabei etwa 4,9 Kilometer vom Portal in Airolo entfernt. Die beiden langen Störzonen müssen vor der Ankunft der Tunnelbohrmaschinen konventionell ausgebrochen werden. Hierfür werden zwei separate Zugangsstollen erstellt.